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Holstein als Rasse der Wahl – eine Rasse mit Action

Die World Holstein Friesian Federation (WHFF) ist die globale Vereinigung der Enthusiasten der Rasse Holstein. Im vergangenen Herbst trafen sich die Repräsentanten von Holstein Züchtervereinigungen, Landwirte und Mitarbeiter der gesamten Milchwirtschaft in Puy du Fou, Frankreich, zur Weltkonferenz. Der Tagungsort war beeindruckend und die Tagung hatte auch einen festlichen Touch, da sie gemeinsam mit der 100-Jahr-Feier der Prim‘-Holstein abgehalten wurde. Mit dem Einführungsvortrag hatte ich die Ehre einerseits die Vorteile unserer wundervollen Rasse darzustellen und andererseits auch einige Gedanken zur Verbesserung zu äußern.


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© Dorothee Warder

Ein Thema, welches viele Holsteinzüchter beschäftigt, ist die Inzucht. Wenn wir die Pedigrees der Tiere in den Top-Zuchtlisten anschauen, so ist uns allen klar, dass eigentlich nur wenige Familien repräsentiert sind. Und viele dieser Familien werden in gleich mehreren Ländern sehr stark genutzt. In einer kürzlich veröffentlichten WHFF-Studie haben die weltweiten Rechenzentren der Zuchtwertschätzung eine Zusammenfassung der mittleren Inzuchtgrade nach Geburtsjahr bereitgestellt. Es ist alarmierend, dass diese Zahlen mit einer auch noch steigenden Geschwindigkeit ansteigen, wobei ein Aufwärtshaken in jüngerer Zeit mit der genomischen Selektion in Verbindung gebracht werden kann. Also, was ist zu tun?


Nun, die Holsteinzüchter sind nicht in einem Vakuum tätig. Es existiert eine große wissenschaft­liche Gemeinschaft, welche sich mit der Explosion der genomischen Zahlen beschäftigt, wobei das Verstehen von genetischem Fortschritt, die Anpassung an den Klimawandel, und sogar die die Kräfte der Evolution selbst im Zusammenhang gesehen werden. Neue Erkenntnisse der Molekularbiologie, der Genregulation und der Dynamik von Populationen werden beeinflussen, wie wir zukünftige Holstein-Zuchtprogramme entwerfen.


Seit der Zeit Darwins, der berichtete, dass verschiedene Finkenarten auf verschiedenen Inseln der Galapagos-Gruppe leben, versuchen Wissenschaftler zu verstehen, was auf der DNA-Ebene passieren muss, damit derartige Unterschiede entstehen. Die neuen Werkzeuge der Untersuchung von DNA haben zum Erstaunen der Wissenschaftler dazu beigetragen, herauszufinden, dass Hauptverursacher der Unterschiede die Interaktion zwischen Genen ist. Diese Interaktionen kontrollieren das An- und Abschalten von Genen, wieviel Protein tatsächlich kodiert wird und welches die Ziel-Gewebe sind. Eine jüngere Studie aus Australien bestätigte, dass ca. 70 % des genetischen Fortschritts bei Rindern seine Ursache in Unterschieden in der Genexpression hat.


Dies bedeutet, dass jede der Milchrinderrassen einen etwas anderen biologischen Pfad beschritten hat, um dasselbe Ziel zu erreichen.

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© Dorothee Warder

Auch bei Kühen unterschiedlicher Leistungshöhe können ähnliche Gene vorliegen, die Gene der hochleistenden Kühe interagieren aber in einer effizienteren Art und Weise. Wenn man Unterschiede zwischen verschiedenen Milchrinderrassen betrachtet, stellt man fest, dass das physiologische Netzwerk in unterschiedlicher Weise verwoben ist. Unterschiedliche Gen x Gen – Interaktionen erlauben es den verschiedenen Rassen, auf hochleistende, fruchtbare und gesunde Kühe zu züchten – allerdings in unterschiedlicher Art und Weise. Dies bedeutet, dass jede der Milchrinderrassen einen etwas anderen biologischen Pfad beschritten hat, um dasselbe Ziel zu erreichen. Genetiker nennen dieses Phänomen genetische Redundanz. Es gibt mehrere genetisch verschiedene Lösungen zur Erreichung desselben Phänotyps. Auch innerhalb der Rasse Holstein können wir Redundanz in unseren Zuchtprogrammen nutzen.


Eine wichtige Komponente der genetischen Redundanz ist Epistasie (Wechselwirkung zwischen Genen). Dabei kann ein bestimmtes Gen in einer Familie einen positiven Effekt haben und einen gegenteiligen Effekt in einer anderen Familie. Der Wert eines epistatischen Effekts unterscheidet sich zwischen den Familien, weil er davon abhängt, welche anderen Gene in der Familie vorhanden sind. Aufgrund von Epistasie werden in unterschiedlichen Familien unterschiedliche Genkombinationen selektiert und dies trägt zum Erhalt genetischer Diversität bei.


Abb. 1: Populationsstruktur der US-Holstein-Population im Jahr 2022
© Tom Lawlor

Abb. 1: Populationsstruktur der US-Holstein-Population im Jahr 2022

In den derzeitigen Verfahren der Zuchtwertschätzung werden alle Tiere in derartiger Weise gleichbehandelt, dass die einzigartigen Gen x Gen-Interaktionen der unterschiedlichen Familen sich gegenseitig aufheben. Wir selektieren für Gene, welche einen gleichartigen bzw. additiven Effekt über die gesamte Population haben, anstatt für epistatische Kombinationen von Genen zu selektieren. Die Tiere mit dem höchsten Zuchtwert sind Tiere mit der höchsten Summe guter Gene. Das genetische Top-Material konzentriert sich immer mehr, da wir die züchterischen Werkzeuge wie Genotypisierung, Embryo-Transfer, etc. in bestimmten Familien verstärkt anwenden. Daraufhin selektieren wir Nachkommen dieser Elite-Familien, verpaaren sie und dies resultiert in einem Anstieg der Inzucht.


Ironischerweise liegen die Dinge so, dass die genomische Selektion zu einem Anstieg der Inzucht auf kurze Sicht geführt hat, während wir annehmen können, dass die Inzucht auf lange Sicht eine geringere Bedeutung haben wird. Die Kombination der genomischen Selektion mit der Anwendung von gesextem Sperma, Embryotransfer und dem beschränkter gewordenen Zugang zu junger Genetik hat dazu geführt, dass einzelne Zuchtorganisationen und Länder sich genetisch immer stärker unterscheiden. Abb. 1 zeigt die Maßzahlen der genetischen Differenzierung (Fst = Maßzahl genetischer Unterschiede zwischen Subpopulationen) und damit die Populationsstruktur der US-Holstein-Population für das Jahr 2022. Jede der verschiedenen Zuchtorganisationen fokussiert sich auf ein wenig andere Gruppen von Tieren. Zur Interpretation der Werte: Ein Fst-Wert von 0 steht dabei für keine Unterschiede, 0.15 wäre der mittlere Unterschied zwischen verschiedenen Milchrinderrassen und 0.30 wäre der Unterschied zwischen einer Milch- und einer Fleischrinderrasse. Die derzeitigen Unterschiede zwischen den Zuchtorganisationen entsprechen ca. einem Viertel der genetischen Unterschiede, die man zwischen Milchrinderrassen finden kann.


Dies ist der Beginn einer Zeit, in der man aus unterschiedlichen Holstein-Linien auswählen kann.

Die Selektion innerhalb der Zuchtprogramme hat dazu geführt, dass das Zuchtmaterial jeweils aus leicht unterschiedlichen Familien besteht. Dies ist der Beginn einer Zeit, in der man aus unterschiedlichen Holstein-Linien auswählen kann. Zuchtprogramme können dieses Konzept auch so erweitern, dass innerhalb ihres Programms mehrere Linien verfügbar sind und genutzt werden können. Die Züchter könnten dann zwischen den Linien rotieren und weiter einen hohen genetischen Fortschritt realisieren und dabei gleichzeitig die Inzucht in ihrer Herde minimieren und zur genetischen Diversität der gesamten Population beitragen.


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© Dorothee Warder

Fortschritte im großen Feld der Genetik werden den Holsteinzüchtern helfen, verschiedene Linien zu entwickeln. Während wir neue wissenschaftliche Erkenntnisse anwenden, werden wir sehen, dass sich sowohl die Möglichkeiten für eine Vorausschätzung bei einer Selektion innerhalb als auch zwischen Linien immer weiter verbessern und das Verständnis für das, was auf molekularer Ebene geschieht, wird stetig erweitert. Unsere künftigen Zuchtstrukturen werden die unterschiedlichen epistatischen Genkombinationen in unterschiedlichen Holsteinlinien besser nutzen können. Neue genetische Werkzeuge, welche die Veränderungen in der Genexpression messen, werden uns in die Lage versetzen, besser zu verstehen, wie unterschiedliche Holstein-Familien auf immer höheren Niveaus produzieren aber hierzu unterschiedliche Gene und unterschiedliche Gennetzwerke nutzen.


Die Existenz mehrerer Holsteinlinien muss aber nicht bedeuten, dass wir alle in verschiedene Richtungen gehen. Ganz im Gegenteil. Es bedeutet, dass wir unsere genetischen Ressourcen klüger nutzen sollten. Zuchtorganisationen werden ihre Programme auch wirklich umsetzen müssen. Nationale Zuchtwertschätzstellen werden multiple nationale Zuchtwerte bereitstellen müssen und dies beinhaltet Zuchtwerte auf die gesamte Population bezogen, sowie – incl. der eigenen genomischen Lernstichprobe – auch Zuchtwerte mit Bezug auf jede im Land verwendete Linie. Unsere internationalen Organisationen wie WHFF und Interbull werden genetische Werkzeuge erarbeiten müssen, welche die genetischen Distanzen zwischen Linien und den über alles gesehenen Inzuchtzuwachs in der globalen Population routinemäßig überwachen. Die nationalen Zuchtorganisationen werden viel Zeit für eine intensive Ausbildung zu den Vorteilen dieses neuen Zuchtschemas und dazu, wie man sinnvollerweise mehrere Linien in der eigenen Herde nutzen kann, investieren müssen.


Holsteinzüchter haben ihre Basis immer auch in der Wissenschaft gesehen. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb die Holsteinzucht als erste unter allen Sparten der Tierzucht die genomische Selektion nutzte. Andere Sparten folgten unserer Führung. Wieder einmal schauen wir auf neue Erkenntnisse, die uns helfen werden, Zuchtprogramme so anzupassen, dass wir einerseits die Rasse immer weiter verbessern und andererseits die genetische Diversität auch auf lange Sicht erhalten können. Als Treuhänder der Rasse haben wir die Verpflichtung, den zukünftigen Holsteinzüchtern eine Kuh zu übergeben, welche die genetisch-bedingte Fähigkeit hat, auch in den nächsten 100 Jahren die Nummer Eins der Milchrinder zu sein.

Dr. Tom Lawlor, Holstein Association USA (Übersetzung: Prof. Hermann Swalve, Halle)